Wer nach Toba in Japan will, fliegt mit Air Berlin von Tegel beispielsweise nach Helsinki und steigt dort um. Das hat zumindest den Vorteil, dass man auf dem Flughafen der finnischen Hauptstadt ein ordentliches Mittagessen bekommt: Lachs mit Sternanis und Zimt, Kartoffeln, Brokkoli, Salat, Kaffee, Mineralwasser. Und das zum gleichen Preis, wie er im Tegel-Terminal für ein Paar Laggner-Weißwürstl mit Laggner-Brezn aufgerufen wird.
Helsinki übrigens ist eine Art Drehkreuz für Asien-Flüge. Unser Ziel ist Osaka, Japans drittgrößte Stadt. Zwanzig Journalisten aus zwölf Ländern sind zu einer Tour nach Toba eingeladen: Gregoire aus Belgien, Zachi aus England, Stephané aus Frankreich, Natalie aus Israel, Deepti aus Indien, Amy aus Kanada, Andras aus Ungarn, Kollegen aus Italien, Hong Kong, Taiwan und Thailand.
Die meisten aus der Gruppe haben schon Reportererfahrungen in Japan gemacht: Tokyo, die alten Kaiserstädte Kyoto und Nara, Hokkaido, die Insel am Eismeer, Okinawa mit seinem gelassenen Südseecharme. Toba jedoch ist für alle eine Premiere, und wir freuen uns auf die Begegnung mit den Ama-Taucherinnen von Toba.
Mittwoch, 18. Mai 2016
Bankett in Japan Toba-City
11.00 Uhr Treff in der Ankunftshalle des Kansai International Airports Osaka, 11.15 Uhr Abfahrt des Busses nach Toba City, 14.45 Uhr Check in im dortigen Hotel Todaya. Danach, 16.00 Uhr Dinner Party im Restaurant Toba Marché – so hieß es im Zeitplan, den uns Delegationsleiter Justin Yip in die Hand gedrückt hatte.
Die erste Erkenntnis: Wer hier 14.45 Uhr sagt, meint 14.30 Uhr, und wenn es um 16.00 Uhr heißt, ist 15.45 Uhr gerade richtig. Japan ist das Land der Überpünktlichkeit und etwa vergleichbar mit den deutschen Bundesländern.
Toba liegt auf der Halbinsel Ise Shima, direkt am Pazifik. Sie findet zwar nur in wenigen Reiseführern Erwähnung, hat es aber dennoch zu einiger selbst internationaler Bekanntheit gebracht. Da ist die Perleninsel Mikimoto, auf der Kokichi Mikimoto 1893 eine noch heute angewandte Methode entwickelte, Perlen zu züchten. Da ist die allgegenwärtige Tradition der Ama-Taucherinnen, der eigentliche Grund unseres Toba-Trips. Und da ist eine regionale Seafood-Küche, die selbst im fischverrückten Japan ihresgleichen sucht.
Gastfreundschaft gehört zu den wichtigsten japanischen Tugenden, ebenso wie Bildungsdrang, Hilfsbereitschaft, Höflichkeit und Traditionsbewusstsein. So ist es auch nicht verwunderlich, dass die Stadt Toba uns, eine Gruppe Journalisten aus Asien und Europa, zum Auftakt unseres Besuchs zu einer Welcome Dinner Party einlädt.
Selbst Kusuichi Kida, der Bürgermeister von Toba und sein Vize, Kenichi Konoshita, haben sich diesen Abend frei gehalten, um uns zu begrüßen – dazu ein gutes Dutzend weiterer Repräsentanten aus Wirtschaft und Tourismus der Region.
Toba Marché
Der Ort des Geschehens heißt Toba Marché. Ein rund 750 Quadratmeter großer Flachbau im Hafennähe – normalerweise eine Markthalle, in der regionale landwirtschaftliche Produkte, wie Obst, Gemüse und Reis, sowie Fisch und Fleisch angeboten werden. Ebenfalls ausschließlich aus der Gegend.
Bürgermeister Kusuichi Kida informiert uns darüber, dass über zehn Prozent der Einwohner der Stadt vom Fischfang und von der Fischverarbeitung leben. Rund 2.500 Menschen sind das. Hinzu kommt der Tourismus. Toba zählt jedes Jahr rund vier Millionen Gäste, 60 Prozent davon kommen aus den nahe liegenden Großstädten. „Für Osaka zum Beispiel sind wir eine Art Naherholungsgebiet“, so Bürgermeister Kusuichi Kida. Unzufrieden ist das Stadtoberhaupt damit, dass jährlich nur 40.000 ausländische Besucher den Weg nach Toba finden. „Bis spätestens 2020 soll sich diese Zahl verdoppeln.“ Dabei setzt er nicht zuletzt auf das kulinarische Potential, das nicht nur Toba, sondern die gesamte Halbinsel Ise Shima bietet. Stichwort und Startschuss für Chef Sadakatsu Matsuura und seine Mannschaft.
Die Arbeit der Männer in Weiß beginnt mit einer Kulthandlung. Andächtig prüfen sie ihre Messer. Chef Sadakatsu Matsuura entnimmt einem Zedernholzkasten eine Scheide aus Zeitungspapier, darin ein Schneidwerkzeug mit geschätzten 80 Zentimetern Klingenlänge. Das so genannte aus Sakai gestammte Yanagiba ist ein handgeschmiedetes, extrem scharfes Filetiermesser mit einem rutschfesten Griff aus Graumagnolie, der von einer Zwinge aus Büffelhorn gehalten wird. Es kostet in dieser traditionellen Messerstadt in der Nähe von Osaka, Sakai, wahrscheinlich ein kleines Vermögen.
Weil ihre Messer wichtig sind…
Die übrigen Köche benutzen für ihre Arbeit beidseitige geschliffene Santokus. „ Messer der drei Tugenden“ nennen sie ihre Werkzeuge, weil sich damit sowohl Fisch als auch Gemüse schneiden lassen. Wir lernen, dass der Klingen-Kult fernöstlicher Küchenmeister kein Spleen ist und dass bestimmte Schnitt-Techniken kein Selbstzweck sind, sondern eine Art mechanische Geschmacksverstärkung.
Chef Sadakatsu Matsuura, übrigens auch Präsident des Regional Instituts für kulinarische Studien, zerlegt mit seinem schwertähnlichen Werkzeug einen Thunfisch dermaßen geschickt, dass selbst die zahlreichen angereisten Kollegen japanischer Fernseh- und Rundfunkstationen staunen. Kommentar von Shiori Shimizu von Fuji Television Network: „Das können auch die Leute auf dem Tsukiji-Fischmarkt in Tokyo nicht besser“.
Der Ise-Tuna wird roh als Sushi und Sashimi serviert. Außerdem gibt es dort alles, was der Pazifik im Frühsommer in dieser Region sonst noch bietet: die Spanische Makrele, der delikate Japanische Hummer, der in Wirklichkeit eine Langustenart ist, und hier Ise-Ebi heißt, die winzigen Lanzettfische, Felsenauster, Kammmuschel, Turbanschnecke. Der Star des Abends ist jedoch die Abalone, zu deutsch Seeohr, eine sündhaft teure Delikatesse. Und hier kommen die Ama-Taucherinnen ins Spiel, Frauen, die die Schneckenart vom Meeresboden holen.
Donnerstag, 19. Mai 2016
Im Toba Sea-Folk Museum
Der freundliche ältere Herr, der uns am Eingang des Toba Sea-Folk Museums mit vollendeter Höflichkeit begrüßt, heißt Yoshikata Ishihara. Er ist der Direktor dieses weit über die Region hinaus bekannten Museums, Historiker, Buchautor und ein auch international geschätzter Kenner von Geschichte und Gegenwart der Ama-Fischerei.
Natürlich verweist er in einer wohltuend kurzen Rede auf die über 60.000 Fischerei-Exponate seines Hauses, auf die beeindruckende Sammlung hölzerner Fischerboote. Und vergisst er auch nicht zu erwähnen, dass sein vom japanischen Stararchitekten Hiroshi Naito entworfenes Museum mit Design-Preisen förmlich überschüttet wurde. Worum dann jedoch schnell zu einem Thema zu kommen, dem seine ganze Leidenschaft gehört: der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Ama-Fischrei.
Wie sehr ihm die Traditionen der Ama, ihr Brauchtum und dessen Bewahrung am Herzen liegen, merkt man auch an Yashikata Ishiharas Formulierungen. „Die wahren Königinnen der Küste“, nennt der sonst so sachliche Wissenschaftler die Taucherinnen und fügt hinzu: „Sie kennen die Unterwasserwelt genauso gut wie die Straßen ihrer Dörfer“.
Die UNESCO-Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit ist lang. Die indonesische Batik gehört dazu, die chinesische Kalligrafie und die traditionellen Geigenbaukunst im norditalienischen Cremona. Auch Kulinarisches fand in den letzten Jahren Aufnahme: die Mittelmeerküche beispielsweise, das Krabbenfischen zu Pferde in Belgien, der Weinausbau in Amphoren in Georgien. Bereits 2007 stellten Japan und Südkorea den Antrag, die Ama-Fischerei ihrer Länder in diese Liste aufzunehmen, doch bislang ohne Erfolg. Deshalb nutzt Museumsdirektor Yoshikata Ishihara jede Möglichkeit, dafür zu werben.
Die uralte Amas Geschichte
„Ama bedeutet ˏFrau des Meeres‘ “, erläutert er. Und fügt hinzu, „seit rund 3.000 Jahren sind es tatsächlich ausschließlich Frauen, die diese Art der Fischerei betreiben – früher halb nackt, lediglich mit einem Lendenschurz bekleidet, seit beginn des 20. Jahrhunderts in weißem Leinendress und erst seit etwa 1960 im Neoprenanzug, allerdings ohne Schnorchel und ohne Sauerstoffgerät.“ Die Frauen können bis zu einer Minute unter Wasser bleiben und erreichen Tauchtiefen von fünf bis maximal 20 Meter. Mit Hilfe verschiedener meißelartiger Werkzeuge lösen sie Seeigel, Schnecken und die kostbaren Abalonen vom Meeresboden. Außerdem bringen sie Algen, Hummer und Oktopusse mit nach oben.
Warum Männer diese Arbeit nicht machen, wird unterschiedlich erklärt. Sie haben weniger Körperfett, sagt man, da könnten sie die Kälte schlechter vertragen. Oder sie sind beim Fischfang, weit weg, auf hoher See. Vielleicht sind sie aber einfach auch nur das schwächere Geschlecht, heißt es bei den Taucherinnen.
Was sie fangen und sammeln dürfen, ist übrigens inzwischen streng reglementiert. Eine Abalone beispielsweise muss mindestens 50 Monate Wachstum hinter sich haben. Dann ist sie 10,6 Zentimeter lang, das Mindestmaß. Die Ama-Taucherinnen kontrollieren es mit einfachen Hilfsmitteln aus Holz. Abalonen, die das Maß nicht erreichen, kommen zurück ins Meer. „Ama sind die Garantinnen einer nachhaltigen ökologischer Fischerei“, sagt Museumsdirektor Yashikata Ishihara
Freitag, 20. Mai 2016
Bei den Ama-Taucherinnen von Toba
In den Straßen von Toba sind die Ama allgegenwärtig. Überall Plakate und Poster, in den Schaufenstern vieler Geschäfte Essentials der Ama-Tätigkeit, uralte Taucherbrillen, rostige,messerartige Werkzeuge, Netze, die die Taucherinnen um den Hals tragen. Zwei Ama-Symbole zieren auch die meisten Souvenirs: Seiman, ein fünfzackiger Stern und Doman, ein Gitterraster.
Beide sollen die Frauen vor Gefahren schützen, wenn sie in den felsigen Küstengewässern tauchen. Auch an einigen Häusern finden wir diese traditionellen Zeichen, einfach an die Tür gemalt oder in rund geschliffene Steine geritzt: Hinweis darauf, dass hier aktive Ama wohnen.
Allzu viele Häuser mit Stern und Gitter gibt es in Toba jedoch nicht mehr. Während Anfang der 1950er hier über 3.000 Frauen dem Ama-Handwerk nachgingen, sind es heute gerade mal noch knapp 600. Ähnlich drastisch ist der Rückgang im benachbarten Shima. Hinzu kommt, dass die aktiven Taucherinnen immer älter werden. Die jüngsten in Toba sind um die 30, die älteste über 80, das Durchschnittsalter liegt bei 63 Jahren. Einige der Gründe dafür liegen auf der Hand, andere erfahren wir beim Besuch in einem so genannten Ama goya.
Ama goya heißen die Hütten, in denen sich die Taucherinnen nach der Arbeit erholen. Außen Parkplätze für ihre Motorroller und Kleiderständer, um die Neoprenanzüge zu trocknen, innen eine offene Feuerstelle, drumherum Bänke zum Ausruhen. Wir treffen vier Ama, die zwar mit uns reden, aber mit ihren dicken Pullovern und wärmenden Decken nicht fotografiert werden wollen. „Nur in Neoprenanzügen“, bitten sie.
Eine lebenslange Arbeit
Ama haben ihren Stolz. Sawako Nomura, die Älteste, ist 70 und taucht seit 45 Jahren; Sayuri Nakamura, 65, ist seit 43 Jahren dabei; die 62-jährige Yoshino Uemura kam erst mit 40 zu den Ama-Taucherinnen ebenso wie Mie Nakazero, die 52-jährige Wortführerin der Gruppe . Sie spricht über den fehlenden Nachwuchs, über die zunehmende Verschmutzung der Meere und darüber, dass dadurch immer weniger Abalonen wachsen. „Früher“, sagt sie, „sind wir so lange getaucht, wie es möglich war“, heute hat die Fischereigenossenschaft die Arbeitszeit geregelt“, um die Abalonen vor Raubbau zu schützen.
Von März bis Mai tauchen die Frauen vormittags und nachmittags je eine Stunde lang, bis zum 14. September dann je anderthalb Stunden. Ohnehin kommen vier Fünftel aller in Japan verzehrten Abalonen inzwischen aus Zuchtbetrieben. Sie sind allerdings ziemlich klein und auch ihr Geschmack kommt nicht entfernt an den der „wilden“ Seeohren aus dem Pazifik heran.
„Und was den Nachwuchs betrifft“, so Mie Nakazero, „der fehlt nicht nur uns, er ist ein Problem in der gesamten Land- und Fischwirtschaft Japans.“ Und Sawako Nomura fügt hinzu: „Die Zeiten, in denen die gut verdienenden Taucherinnen bei den Männern selbst ein ˏguter Fangʹ waren, sind leider vorbei.“
Noch arbeiten in 18 der 47 japanischen Präfekturen rund 1.800 Ama-Taucherinnen, pflegen ihre Traditionen und hoffen, dass mit einer Aufnahme in die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes ihr uralter Frauenberuf vor dem Aussterben bewahrt werden kann.
Sawako Nomura, Sayuri Nakamura, Yoshino Uemura und Mie Nakazero machen sich auf den Weg zu ihrem nachmittäglichen Tauchgang. Sie zeigen uns Ihre Ausrüstung: Taucherbrille, Schwimmflossen, Bleigürtel, ein Sammelnetz, das an einem Schwimmring befestigt ist, eine Reihe von verschieden langen Meißeln, mit deren Hilfe sie die Abalonen von den schroffen Felsen unter dem Meeresspiegel lösen ohne dabei ihre Nachkommenschaft zu zerstören.
Nach dem Tauchem im Fischerei
Zehn bis fünfzehn Abalonen können erfahrene Taucherinnen in einer Stunde nach oben bringen, rund 60 mal müssen sie dafür ab- und wieder auftauchen. Anfängerinnen sind schon froh, wenn sie in den Tiefen des Ozeans eine einzige der Seeschnecken entdecken.
„Erfahrung und Geschick entscheiden über den Erfolg“, sagt Mie Nakazero. Wir finden, dass Ausdauer, Kraft und Mut genauso zu diesem Job gehören, dessen häufig beschworene Romantik mit der Wirklichkeit allerdings wohl so viel zu tun hat wie eine Hummer mit einer Heckenschere. Das Meer als Ort täglicher Arbeit birgt Risiken, die Allianz der Taucherinnen mit dem Pazifik ist trügerisch, Ama ist ein harter und gefährlicher Beruf.
Dennoch sind Sawako Nomura, Sayuri Nakamura, Yoshino Uemura und Mie Nakazero gut gelaunt und erzählen selbstbewusst und mit dem Stolz von Menschen, die den Ozean nicht fürchten, über ihre Gemeinschaft, deren jahrtausendealte Traditionen, aber auch darüber, dass das Abalone-Tauchen trotz der Krisenzeiten noch immer eine lukrative Angelegenheit ist.
Im Fischereihafen von Toba – hierher bringen die Ama ihr Seafood zum genossenschaftlich organisierten Verkauf – hängen Preislisten. Rund 8.700 Yen pro Kilogramm haben die größten Abalonen bei den letzten Auktionen erzielt. Das sind immerhin 70 Euro. In den Sternerestaurants von Kyoto oder Tokyo kosten die handtellergroßen Exemplare dann allerdings locker mal ein paar hundert Euro.
Preiswerter ist es da allemal in den rustikalen Gasthäusern, die die Taucherinnen inzwischen selbst betreiben, den so genannten Ama huts. Eine Abalone frisch vom Grill, fachgerecht vor- und zubereitet, das ist schon ein Genuss.
Samstag, 21. Mai 2016
Auf der Insel Toshijima
„Hello Captain!“ Yasutaka Matsuo lächelt ein bisschen verschämt. Er spricht zwar kein Englisch, aber Captain, das ist international, das versteht er. Nein, übersetzt die Dolmetscherin, er sei kein Kapitän, sondern lediglich Bootsmann. Petty officer. Japanisches Understatement, das kennen wir schon. Sicher steuert Yasutaka Matsuo seine Barkasse aus dem Fährhafen von Toba und dann in Richtung Nordosten.
Mit an Bord ist Akifumi Seko, Chef der Toba Tourism Association. „In der Bucht von Toba gibt es vier Inseln“, erklärt er. „Sakatejima, Sugashima, Kamishima und schließlich Toshijima, das ist die größte und bevölkerungsreichste dieser Inseln.“ Auf die Frage, was denn das Besondere von Toshijima sei, antwortet der Tourismus-Manager knapp: „The unpretentious charm.“ Nach einer knappen Stunde Seefahrt legt Yasutaka Matsuos Barkasse in Toshi Port an und wir machen uns auf den weg, den schlichten Charme der Insel zu entdecken.
Erster Eindruck: Toshi Port ist eine Bilderbuchidylle. Sanft glitzert der Pazifik unter der Morgensonne, grüne Hügel, kleine Häuser, Fischerboote schaukeln in den Wellen. Hier scheint die Welt in Ordnung, die Menschen im Einklang mit der Natur. Lediglich die selbst im kleinsten Dorf allgegenwärtigen Automaten stören dieses Bild. Gewaltige bunte Kisten, gefüllt mit Zigaretten, Getränken, Snacks, selbst solche mit eingebauter Mikrowelle gibt es.
Achtung: Tsunamirisiko!
Und das ist dieses riesige leuchtend gelbe Schild: Tsunami Warning! „ Wenn ein Erdbeben länger als eine Minute dauert, begeben Sie sich augenblicklich in höher gelegenes Gebiet!“, heißt es da. Sicher, Fukushima liegt rund 500 Kilometer weiter nördlich, und auf der Halbinsel Ise Shima gibt es auch kein Atomkraftwerk. Aber die Bilder der verheerenden Katastrophe sind schnell wieder gegenwärtig. „Nicht nur diese Region, sondern die gesamte japanische Pazifikküste ist gefährdet“, erklärt Tourismus-Manager Akifumi Seko, „Erdbeben, in deren Folge auftretende Tsunamis, Taifune.“ Die Chronik nennt an erster Stelle Ise-Bucht-Taifun, der 1959 die Präfektur Mie heimsuchte und 320.000 Opfer forderte.
An vielen Häusern des Fischerdörfchens, aber auch an Schuppen und Booten, entdeckten wir ein mystisches Zeichen. Die Insulaner nennen es Maruhachi und Akifumi Seka weiß natürlich auch, was es damit auf sich hat. „Das Zeichen zeigt die Zahl Acht – auf japanisch hachi – , und es ist der populären Gottheit Hachiman gewidmet, die sowohl im Shinto als auch im japanischen Buddhismus verehrt wird.“ Und was bedeutet dieses Symbol? „Damit wird die Hoffnung der Fischer auf gute Fänge und die Sicherheit ihrer Häuser ausgedrückt.“ Wir würden Glückszahlen sagen.
Japan ist das Land der Lautsprecher und natürlich entsprechender Durchsagen. Immer und überall ertönen Ankündigungen, Hinweise und Warnungen. In Toshi Port beginnt es um 6.00 Uhr morgens. Tüt-tüüt, tüt-tüüt, tüt-tüüt. Dann eine Stimme, weiblich und freundlich, aber irgendwie auch bestimmt. Minuten später herrscht Betriebsamkeit in den engen Gassen. Knatternde Motorroller, lautes Lachen, Stimmengewirr.
Weg mit dem Müll…
Frauen und Männer treffen sich am Hafen. Die meisten tragen Gummistiefel, manche Südwester. Alle haben irgendwelche Geräte – Besen, Harken, Schaufeln, Spaten. Sie beginnen, den Strand zu säubern, stopfen Plastikmüll, der über Nacht angeschwemmt wurde, in Säcke – sechs, acht davon sind schnell gefüllt. Später erfahren wir, dass sie das, außer Sonn- und Feiertagen, täglich tun. Wir rechnen: Acht solcher Säcke bei jeder Strandkosmetikaktion. Das sind im Jahr rund 2400, ein gigantischer Müllberg, allein an diesem Strand.
Bis zu 13 Millionen Tonnen Plastik werden weltweit jedes Jahr in die Meere gespült oder geworfen. Nur ein Bruchteil davon gelangt – wie auf Toshijima – wieder an Land. Der Rest sammelt sich auf dem Meeresboden und verrottet erst in Jahrhunderten. Wissenschaftler entdeckten winzige Partikel davon bereits in Fischen, Garnelen und Muscheln. Das Meer als riesige Müllkippe.
Irgendwie scheint das, was dann Punkt 12.00 Uhr aus den Lautsprechern des Dorfes schallt, nicht zu dieser deprimierenden Vorstellung zu passen: Ludwig van Beethoven, 9. Sinfonie, der Schlusschor, das Jubelthema. Freude, schöner Götterfunken.
Die Bekanntschaft mit Ariko und Yasoji Hashineoto bestätigt unsere Vermutung. Der 82-Jährige und seine Frau, 77, sind auf Toshijima geboren. Sie leben von der Fischerei und kennen das Meer. „Der Kampf gegen den Müll ist ein Kampf gegen Windmühlen“, sagt uns die alte Fischersfrau.
Um 13.00 Uhr ist Fischauktion. Was die Kutter am Morgen in Küstennähe gefangen haben, wird versteigert. Große Vielfalt, kleine Mengen, dementsprechend hoch die Gebote. Fisch ist teuer in Japan, weit teurer als in Deutschland.
Sonntag, 22. Mai 2016
Im Inselhotel Suzunami
Eben noch mit T-Shirt und Basecap auf der Fischauktion, treffen wir Chiharu Hashimoto ein paar Stunden später dezent geschminkt und straff eingeschnürt in einen leichten Baumwollkimono. Er ist der sogenannten Yukata, die Arbeitskleidung im Hotel Suzunami. Die 47-Jährige und ihr Mann Kiyohiro, 49, betreiben das Haus seit 1996. Dort sind dreißig Zimmer und Suiten, ein Bankettsaal, Räume für Tagungen und natürlich das unvermeidliche Gemeinschaftsbad, das aus natürlichen heißen Quellen, den so genannten Onsen, gespeist wird. Kiyohiro Hashimotos Großvater hat das Suzunami 1958 als winzige Herberge eröffnet. Seine Mutter baute sie dann zum Hotel um, Kiyohiro und seine Frau Chiharu führen es jetzt in dritter Generation.
Beide sind hier geboren und, was die Zukunft der Insel betrifft, weniger pessimistisch als der Bürgermeister. Kiyohiro Hashimoto, ausgebildeter Hotelfachmann und vor Jahren einige Zeit in der Schweiz tätig, verweist auf die Ruhe, die Naturschönheiten und die Wandermöglichkeiten der Insel. „Natürlich ist Toshijima nicht Tokyo Disneyland , aber Vergnügen muss ja nicht notwendigerweise laut und schrill sein“, ergänzt seine Frau. Die beiden Hoteliers haben vier Kinder und sind sich sicher, das auch die vierte Generation im Suzunami-Hotel ein Hashimoto sein wird.
Das tradiotionelle Ryokan
Natürlich sind auch in Japan die internationalen Hotel-Companies mit ihren Luxusherbergen vertreten, in Tokyo ist mit dem Mandarin Oriental sogar das weltweit erste Sechs-Sterne-Hotel am Start. Geschäftsleute übernachten in Business Hotels, karo einfach, aber preiswert und meist in Bahnhofsnähe. Noch eine Preisklasse tiefer sind die Mishuku, Familienpensionen, man teilt sich das Badezimmer auf dem Gang, die Fernseher in den winzigen Schlafräumen sind Baujahr 1990. Es gibt die sogenannten Kapselhotels – ein Bett für die Nacht. Fernseher, Schließfach oder die Möglichkeit, in einem Tempel zu übernachten und mit den Mönchen um 3.30 Uhr aufzustehen, zu meditieren und zu beten.
Die Klassiker schlechthin allerdings heißen Ryokan, wörtlich übersetzt: Reisegasthäuser. Das Suzunami ist ein Ryokan, ein typisch japanisches Traditionshotel mit eigenen Gebräuchen. Kiyohiro Hashimoto, der Chef des Hauses und seine erste Lektion: Wie verhalte ich mich richtig? „Nachdem Sie das Haus betreten haben, ziehen Sie bitte Ihre Straßenschuhe aus und benutzen die bereitgestellten Hausslipper. Beim Betreten des Zimmers lassen Sie diese am Eingang stehen. In den Badezimmern gibt es extra Badezimmerslipper.“ Schuhe aus, Schlappen an, auch Hashimoto und seine Mitarbeiter tragen im Haus zu Anzug, Hemd und Krawatte ihre Hausschlurfer – das ist für Ausländer gewöhnungsbedürftig, wirkt aber irgendwie familiär.
Gutes Essen: früher oder später mit Karaoke
Ohnehin sind es zum größten Teil Gruppen, die in einem Ryokan absteigen und die dann meist auch in einem Zimmer untergebracht werden – das ist bei Firmenausflügen ebenso üblich wie bei Familienreisen. Gute japanische Sitte eben: Wer gemeinsam auf Reisen geht, übernachtet auch gemeinsam in einem Zimmer. „Es lebe die Jugendherberge“, kommentiert unser ungarischer Kollege Andras trocken.
Entscheidend dafür, welche Note die Gäste einem Ryokan geben, ist die Güte des Essens. Traditionell, reichhaltig und vielfältig sollte es sein, das erwartet der Japaner. Zum Abendessen trifft man sich dann – natürlich in Hausschuhen und mit dem hauseigenen Kimono bekleidet, bei Ausländern sind Ausnahmen erlaubt – im Speisesaal. Der ist, wie die Zimmer, mit den obligatorischen Tatamis, Schilfmatten mit Reisstrohfüllung und einer Einfassung aus Brokatstoff ausgelegt, man nimmt im Schneidersitz oder auf Knien vor den niedrigen, bestenfalls 30 Zentimeter hohen Tischen Platz, und los geht’s. Das Suzunami-Hotel gilt, was die Qualität seiner Dinner-Offerten betrifft, als eins der besten Häuser in der gesamten Präfektur.
Dem ausgedehnten Essen folgt an den meisten Abenden das unvermeidliche Karaoke, bei dem selbst der Hotelchef zum Mikrofon greift und die Stimmbänder vibrieren lässt. Zum Glück hört kaum jemand zu, alle warten nur auf den eigenen Einsatz. Zumindest bei mir wird der beim nächsten Mal besser klappen, versprochen. Also dann – Sayonara, auf Wiedersehen Japan.