Unterwegs in Piemont

Das Piemont ist immer für eine Überraschung gut, heißt es in Italien. Und tatsächlich: Der Schnee kam mittags und fiel in solchen Mengen, dass die Gegend zwischen Alba und Cuneo – unser Reiseziel – innerhalb weniger Stunden eine dicke weiße Decke trug. Sicher, für die Region im Nordwesten Italiens ist Winterwetter kurz vor Weihnachten nichts Außergewöhnliches – die Alpen sind schließlich nur 170 Kilometer entfernt – 60 Zentimeter Neuschnee an einem Tag allerdings schon.
Wer der Kulinarik wegen ins Piemont reist, macht das normalerweise im Herbst. Dann werden im Land am Fuße der Berge – ai piedi die monti – die Nebbiolo-Trauben für die großen Piemonteser Rotweine Barolo und Barbaresco gelesen, dann hat der tartuffo bianco, der berühmte weiße Alba-Trüffel ebenso Saison wie die Haselnüsse und Steinpilze, die Madernassa-Birne und die Carmagnola-Paprika… Was das Piemont in dieser Zeit zu bieten hat, liest sich wie die Einkaufsliste renommierter Feinkosthändler.

Die piemontesischen Küche

Der Herbst ist auch die Zeit, in der die Osterien und Trattorien besonders brillieren und die Cucina della Mamma dort ihre ganze Klasse zeigt, obwohl es sich bei der piemontesischen Küche im Gegensatz zur nahen französischen um eine eher einfache, ländliche Küche handelt, schnörkellos und ungekünstelt. Dass wir uns dennoch im Winter auf den Weg gemacht heben, nicht nach Alba oder Asti wohlgemerkt, sondern in das vergleichsweise poplige Provinznest Carrù, hat nur einen Grund – ein tierisches Spektakel namens Fieira del bue grasso.

Das kleine Städtchen Carrù

Carrù liegt ein paar Kilometer südlich der weltbekannten Feinschmecker-Wallfahrtsorte Alba, Barolo und Barbaresco und – touristisch gesehen – auch in deren Schatten. Dabei hat das 4.500-Einwohner-Städtchen durchaus einiges zu bieten, o.k., keine Spitzenweinkeller und keine Sternerestaurants, aber eine interessante historische Altstadt mit engen Gassen und vielen kleinen Geschäften, die barocke Pfarrkirche der Madonna Assunta, die Wallfahrtskirche der Beata Vergine ai Ronchi und ein Schloss mit einer bedeutenden Gemäldesammlung. Die Osteria del Borgo und das Ristorante al bue grasso, die zwei empfehlenswertesten gastronomischen Einkehrstätten Carrùs, können sich zwar nicht mit den angesagten Gourmet-Adressen der Region messen, bieten aber eine respektable Regionalküche zum fairen Preis, was ja auch schon was wert ist. Zu großer Form laufen sie kurz vor Weihnachten auf, wenn das Städtchen die Fieira del bue grasso, das Fest des fetten Ochsen, feiert und Carrù zum Touri-Hotspot avanciert…

Die Tradition

Trotz Schneetreibens und ungewohnter Kälte ist die ganze Stadt auf den Beinen, viele im traditionellen Outfit – schwarze oder dunkelbraune Umhänge, breitkrempige Hüte und in der Hand den „Tocau“, ein kunstvoll gebogenes, spazierstockähnliches Hirtenuntensil aus Kastanienholz, das als Symbol des Viehmarktes gilt. Mit den Einheimischen unterwegs: hunderte Gäste aus anderen Regionen Italiens und dem Ausland. Das Ziel der Menschenmassen – die Piazza Generale Perotti im Stadtzentrum. Hier, wo sonst buntes Markttreiben herrscht, befindet sich an diesem Tag die Arena, in der später die Hauptakteure des Festes ihren Auftritt haben werden – rund dreißig muskelbepackte Piemonteser Rinder, die schon seit Stunden von den Juroren des Nationalen Züchterverbandes ANABORAPI begutachtet werden.
Carrùs Bürgermeister Nicola Schellino eröffnet pünktlich um zwölf Uhr mittags die Fieira del bue grasso. Er spricht stolz von einem großen Tag für Carrù und nennt die Atmosphäre euphorisch „id una volta“, einfach einmalig.

Das Fest

Den Ansprachen und Begrüßungen folgt die große Zeit der Züchter und ihrer Rinder – genauer, ihrer Mastochsen. Einige betreten nur widerwillig die Arena, manchen müssen sogar die Augen verbunden werden, damit sie das bunte Spektakel nicht allzu sehr erregt. Die meisten der respekteinflößenden Tiere, die in der Regel 900 bis 1.200 Kilogramm auf die Waage bringen, scheinen allerdings Spaß an der Sache zu haben. Unter dem Jubel der Zuschauer werden ihnen bunt bestickte Decken – sogenannte Schabracken – übergeworfen, ihre Züchter bekommen Pokale überreicht, deren Größe und Gewicht mit der Bedeutung der Ehrung wachsen. „Letztlich geht es dabei nicht um touristischen Klamauk, sondern um den Erhalt dieser alten, einzigartigen Rasse, um die Bewahrung ihrer typischen Eigenschaften und Merkmale und ihrer überlegenen Fleischqualität“, erklärt uns Metzgermeister Massimo Sandrone, Chef einer von fünf (!) Handwerksmetzgereien im 4.500-Einwohner-Städtchen Carrù und selbst Rinderzüchter.

Der Festag

Der Festtag endet in Carrù traditionell mit einem Festessen. Die Restaurants des Städtchens sind seit Wochen ebenso ausgebucht wie die der Umgebung. Wer keinen Platz ergattert hat, kocht zu Hause und lädt Freunde ein. Das Gericht der Begierde heißt GRAN BOLLITO ALLA CARRUCESE CON SALSE TIPICHE. Dahinter verbirgt sich eine im Sud gegarte Orgie verschiedener Fleischsorten: Rind, Kalb, Huhn sowie die unvermeidlichen Cotechini, kräftig gewürzte Kochwürste aus Schweinefleisch.
Vegetarier meiden die karnivore Völlerei ohnehin, aber auch Diätpäpste und Kalorienzähler machen um die Stätten der Fleischeslust zumindest an diesem Abend einen großen Bogen. Da wir zu keiner dieser Spezies gehören, haben wir im Ristorante Al bue grasso – Zum fetten Ochsen – einen Tisch reserviert. Die gastliche Stätte liegt am Ortseingang von Carrù und huldigt ihrem Namensgeber auf besonderer Weise, sowohl draußen vor der Tür als auch im Innern. „Sehen sie sich um“, lädt Servicekraft Eduardo Tangora zu einem Rundgang ein, „wir sind auch ein kleines Museum der Rinderzucht in unsere Region.“

See Also

Nachdem wir Bilder und Banner bestaunt und ausgiebig gewürdigt haben, gestattet uns Servicechef noch einen Blick in die Küche. Hier herrschen Heißdampf und Hochspannung. Acht Gasflammen powern auf höchster Stufe, in 50-Liter-Töpfen brodelt und wallt es, Pfannen glühen. Mit seinen 1,95 ein bisschen über den Dingen – Christian Munoz, der Küchenchef. Der 45-Jährige stammt aus Mexiko, kam als Jugendlicher nach Italien, lernte hier sein Handwerk und ist inzwischen ein erfahrener Bollito-misto-Profi. Auf die Frage, ob er solche Art Fressens noch für zeitgemäß halte, entgegnet er grinsend: „Iss einfach weniger.“ Dann weist er auf ein halbes Dutzend Kassenrollen: „Du kannst auch nur die Saucen löffeln.“ Er zückt einen Löffel: „Probier!“ Es gibt Bagnet verde und Bagnet rosso, das traditionelle grüne und rote Bad, dazu Salsa d‘avie und Salsa al barbaforte, Honig- und Meerrettichsauce. Die ersten beiden cremigen Kreationen müssen, die anderen beiden können sein. Ohne Saucen allerdings ist das Bollito misto undenkbar.

Das große Fressen

Das große Fressen folgt in allen Restaurants von Carrù einem festen Ritual. Zuerst kommen die Vorspeisen: Cacciatori, das sind kleine, luftgetrocknete, ziemlich harte Würste, Kalbstatar, Kuttelsuppe. Dann folgt die Bollito-misto-Parade. Immer zwei Servicemenschen bugsieren einen Servierwagen an den Tisch, darauf riesige Fleischstücke und Schüsseln mit den diversen Saucen. Der Gast entscheidet, was und wieviel er davon möchte. Wenn alle Teller auf dem Tisch stehen, klingen die Weingläser – Alla salute! Es leben die fetten Ochsen!

Ristorante „Al Bue Grasso“
Via Autostrada 10, 12061 Carrù (cn)
017375695
Chiuso il Giovedì
info@ristorantealbuegrasso.it

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