Proteinreicher als ein Steak und so schmackhaft wie ein Flusskrebs: Bis vor hundert Jahren galt der Maikäfer vielerorts als saisonale Ersatz-Delikatesse
Flügel, Fühler und Beine sind sorgfältig zu entfernen, bevor man sie im Ganzen mit Butter in der Pfanne anbrät, mit Kalbs- oder Geflügel-Bouillon ablöscht und bei schwacher Hitze für eine Weile im eigenen Sud ziehen lässt. Der wird durchs Sieb passiert und mit Ei oder Mehlschwitze zu einer cremigen Suppe aufgeschlagen. Als Einlage zum Verfeinern empfiehlt sich gebratene Taubenbrust oder Kalbsleber, deren erdig-herbes Aroma sehr gut mit dem krebsfleischartig nussigen Geschmack der „Potage aux Hannetons“ harmoniert. Kaum zu glauben, aber hier ist von einem fast zweihundert Jahre alten Rezeptvorschlag für die Zubereitung einer Suppe aus Maikäfern die Rede. Der heute so seltene und deswegen als Frühlingsbote mehr denn je verehrte Riesenkäfer galt hierzulande tatsächlich mal als Gaumenfreude, die wortwörtlich mit Haut und Haar verspeist wurde. Bis man das als Feldplage verfluchte Insekt in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts mit schweren DDT-Giftkeulen schließlich nahezu ausrottete, war der Maikäfer (bereits seit dem Mittelalter) vielerorts ein durchaus geschätztes Lebensmittel.
Als kostenloses Abendessen frisch vom Baum geschüttelt und zu Röstkonfekt oder Suppe verarbeitet
Wegen seines hohen Proteingehalts wurde er von den Bauern nicht nur ans Federvieh verfüttert, sondern landete gern auch in deren Küche – zumal er sich in ausreichender Anzahl für ein Abendessen direkt vor der Haustür bequem vom Baum „pflücken“ ließ.
Er wurde entweder im Ofen knusprig geröstet und mit Honig kandiert als knackiges Dessert serviert oder kam in Form einer herzhaften Suppe auf den Tisch. Die war ursprünglich im französischen Elsass und Luxemburg beliebt und stand zur späten Frühlingszeit auch in deutschen Gegenden auf dem Speiseplan, wo seinerzeit die meisten Maikäfer herumflogen – insbesondere im ländlichen Hessen, Thüringen und dem Frankenland. Mit seinem süßlich-würzigen Aroma, das dem von edlen Krustentieren sehr ähnelt, war der Maikäfer damals gerade für viele ärmere Haushalte eine willkommene Abwechslung zum faden Getreidebrei. Dort, wo Fluss und Meer zu weit weg lagen bzw. man sich ohnehin keine teuren Hummer oder Krebse leisten konnte, kamen ersatzweise und quasi gratis Maikäfer in den Kochtopf. Das half nicht nur, Portemonnaie und eigene Speisevorräte etwas zu schonen, sondern erwies sich auch als äußerst gesundheitsförderlich, da der Maikäfer ein wahres Kraftpaket an wertvollen Eiweißen ist.
Perfekter Flusskrebs-Suppen-Fake aus Maikäfern: Die Kochkünste des Medizinalrats Johan Schneider anno 1843
Was bei uns heute im Zeichen zukunftsweisender healthfood-Trends mit proteinreichen Insekten als Fleischersatz schon fast von selbstverständlichem kulinarischen Interesse ist, irritierte und polarisierte Mitte des vorletzten Jahrhunderts vor allem in feineren Kreisen gehörig die Gemüter.
Ein hässlicher haariger Riesenkäfer, der alljährlich in riesigen Schwärmen anrückte, um erbarmungslos die Natur kahl zu fressen, konnte und durfte beim besten Willen keine Gaumenfreude sein. Für den Mediziner und Hobbykoch Dr. Johan Schneider aus Fulda hingegen erwies sich der Maikäfer nach diversen Experimenten am Herd als überaus schmackhafte und gesunde Bereicherung. In dem von ihm mitherausgegebenen, monatlich erscheinenden „Magazin für Staatsarzneikunde“, einer Art Haushaltsratgeber für gesunde Lebensführung, schwärmte der promovierte Feinschmecker anno 1843: „Ist die Bouillon auch noch so schlecht, so wird sie durch die Kraft der Maikäfer vorzüglich, und eine Maikäfersuppe, gut zubereitet, ist schmackhafter, besser und kräftiger als jede Krebssuppe!“. Dabei ließ es sich der Medizinalrat nicht nehmen, direkt auch seinen persönlichen Tipp für einen perfekten Krebsschwanzsuppe-Fake mitzuteilen: „Will man täuschen, so tut man zu benannter Maikäfersuppe einige Krebse, ihre Farbe wird dann rot und die Suppe geht als vorzüglichste Krebssuppe durch, besonders wenn sich in derselben noch einige Krebsschwänze vorfinden. Alle Gäste, welche bei mir ohne es zu wissen und zu erfahren, solche Maikäfersuppe genossen haben, verlangten doppelte, ja dreifache Portionen!“
Maikäfersuppe als kostenlose Kraftnahrung für Hospitäler und Kasernen
Und mit klugem und vorausschauendem Blick auf eine durch Kriege und Missernten bedingte Nahrungsmittelknappheit empfahl der Arzt die Maikäfersuppe als gesunde und kostengünstige Kraftspeise für Hospitäler und Kasernen, wo sie „auch ohne Bouillon und nur mit Wasser zubereitet, herrliche Dienste tun würde“.
Schneiders kulinarische Bemühungen, dem deutschen Volk Appetit auf Maikäfer zu machen, liefen damals ins Leere – auch wenn sich mit den Abermillionen Exemplaren, die seinerzeit noch in riesigen Heerscharen über deutsche Felder und Obstwiesen herfielen, viele hungrige und arme Menschen hätten sattmachen lassen können. Hielt bei den meisten Deutschen Ekel und Aberglaube vom Verzehr des Insekts ab, so kam später auch ein totaler Imagewandel des Maikäfers hinzu:
Mit einem Mal wurde dieser nicht mehr als verfluchter Schädling gesehen, der die Bauern um ihre Ernteerträge brachte, sondern avancierte zum allseits geliebten Frühlingsbotschafter, den man in Gedichten, Kindergeschichten, Märchenwelten und Zeichnungen verehrte – meist sogar in vermenschlichter Darstellung als musizierenden, tanzenden und feiernden Naturgesell.
Liedermacher Reinhard Mey betrauert das schlagartige Aussterben des Brummers
Paradoxerweise wurde dem nun allseits geliebten Tier mit neuentwickelten chemischen Insektiziden gleichzeitig so dermaßen auf den Leib gerückt, dass es hierzulande ab den 1970er Jahren weitestgehend als ausgestorben galt.
Mit seinem nostalgischen Trauersong „Es gibt keine Maikäfer mehr“ setzte der Liedermacher Reinhard Mey dem schlagartig verschwundenen Gartenliebling 1974 ein entsprechendes musikalisches Denkmal. So zahlreich der Maikäfer einst durch die deutsche Natur brummte, bevölkert er heutzutage zwischen Ostern und Pfingsten nur noch die Regalauslagen von Supermärkten Konditoreien oder Praliniers – als Süßigkeit aus Schokolade und Marzipan.
Inzwischen wurde zwar wissenschaftlich erforscht, dass ganz große Maikäferpopulationen – so, wie man sie in den vergangenen Jahrhunderten und zuletzt in den 1960er Jahren erlebte – nur alle 40 bis 50 Jahre vorkommen sollen. Doch schwindende Naturvielfalt und moderne Mono-Agrarkulturen haben dem historischen Brummer inzwischen weitestgehend die Lebensgrundlage für eine mögliche Renaissance genommen.
Mögliche Wiederentdeckung des Maikäfers als functional food in der kreativen Küche
Dennoch besteht zumindest theoretisch die Chance, dass der Maikäfer vielleicht doch noch einmal aufersteht und dann als nachhaltige Functional Food-Delikatesse auf dem Teller landen könnte – so, wie es mit Blick auf ausreichende Nahrungsressourcen in der Zukunft gegenwärtig bereits die Heuschrecke oder der Mehlwurm vormachen. Mutige und kreative Jungköche, die sich dann trotz sicherlich millionenfachem Aufschrei von Maikäferstreichlern an eine Neuinterpretation des historischen Suppenrezepts von Johan Schneider herantrauen würden, gäbe es bestimmt. Warten wir also ab und behalten den Frühsommerhimmel in diesem Jahr besonders gut im Blick. Sollten sich in den kommenden Wochen über Obstbaumplantagen oder Kleingartenanlagen trotz schönem Wetter verdächtig große dunkle Wolken bilden, könnte es sich dabei eventuell um ein Indiz für herumfliegendes Superfood mit delikatem Meeresfrüchtegeschmack und außergewöhnlich hohem Proteingehalt handeln.
Autor: Mike Draegert / Mai 2017
Titelbild: postkarten-paradies.net
Maikäferbild: pixaby.com (User mkoziol)